09.03.2016 Projekt

Bericht über die Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages

NS-Zwangsarbeit ist das Thema einer Ausstellung in der Zentralbibliothek (bis zum 2. April 2016) und einer Ausstellung im Museum der Arbeit (bis zum 3. April 2016). Unsere Freiwillige der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Viktoryia Kutdusova, hat an der diesjährigen Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages teilgenommen, bei der ebenfalls die Geschichte der Zwangsarbeit im NS-Staat diskutiert wurde. Ihr Bericht:

Die Geschichtswissenschaft ist das Produkt menschlicher Arbeit oder so zu sagen ein konstruiertes Produkt. Einige historische Ereignisse haben Bedeutung, andere nicht. Die Selektivität wird relevant, wenn sich politische Institutionen auf die historische Vergangenheit berufen. Sie bestimmen, was wichtig ist, auf was man stolz sein soll, für was man sich schämen muss. Das heißt historisch bewusste Politik.

Die Geschichte der Zwangsarbeit im NS-Staat ist ganz neu und ein unbekanntes Thema für mich. Erstens habe ich über dieses Thema nichts in der Schule gelernt. Die russische Erinnerungskultur konzentriert sich auf den Aspekt des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg (Zweiter Weltkrieg); zweitens arbeite ich in einer KZ-Gedenkstätte, die Definition "Zwangsarbeiter" war für mich unbekannt, der Hauptfokus liegt auf der Gruppe der KZ-Häftlinge als Opfer im NS-Staat: Deshalb war ich total glücklich, als ich eine Einladung für die Jugendbegegnung im Bundestag bekommen habe.

Das Programm der diesjährigen Jugendbegegnung war dem Thema Zwangsarbeit im Nationalsozialismus gewidmet. Das Forum vereinigte etwa 90 junge Menschen aus verschiedenen Ländern wie Deutschland, Polen, Russland, Ukraine, USA und Weißrussland. Sie haben unterschiedliche Erinnerungskulturen mit ihrem jeweiligen geschichtlichen Hintergrund, aber gleichzeitig verbindet sie das Interesse an der zu Unrecht vergessenen Geschichte. Wir haben zusammen fünf Tage verbracht und dabei auch die KZ-Gedenkstätte Mittelbau Dora in Thüringen besucht. Wir haben viel über Zwangsarbeit im Nationalsozialismus mit Experten geredet. Zwangsarbeiter wurden für die Wirtschaft im Dritten Reich genutzt. Diese Menschen aus den besetzten Gebieten mussten auf Baustellen, Bauernhöfen, in Industriebetrieben oder auch in Privathaushalten arbeiten. Männer, Frauen, Kinder aus ganz Europa leisteten Zwangsarbeit als Fremdarbeiter, Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge. Ganz klar erkennt man, dass Zwangsarbeit überall verbreitet war. Zum Beispiel das Häftlingslager Elrich-Bürgergarten, das für 1000 Menschen in der Mitte des Dorfes errichtet wurde. Die KZ-Häftlinge mussten jeden Tag nach der Arbeit durch das ganze Dorf gehen. Die ganze Bevölkerung konnte sie sehen. Heute steht dort gar nichts, nur eine kleine Hinweistafel.

Jede Exkursion oder jedes Zeitzeugengespräch bringt interessante und kontroverse Diskussionen. Manchmal war es schwierig, für alle Fragen die richtige Antwort zu finden. Zum Beispiel auf die Frage "Wo beginnt Täterschaft?" Ist die Bäckerin, die für die KZ-Häftlinge Brot backt, schuldig? Oder der Zugführer, der den Zug zum Lager fährt? Unsere Antwort ist "Nein". Andererseits sagt man: "Wenn man die Welt ändern will, dann sollte man bei sich selbst beginnen". Jeder von uns hat eine eigene Antwort.

Im Nationalsozialismus waren 20 Millionen Menschen aus ganz Europa in Lagern inhaftiert. Menschen wurden in eine rassistische Hierarchie gepresst und wurden in das Reich gebracht. Allein in Berlin wurden 3 000 Lager errichtet und eineinhalb Millionen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen beschäftigt. Eins von den vielen Lagern haben wir besucht: Heute steht dort das Dokumentationszentrum für die NS-Zwangsarbeit Berlin Schöneweide. Die moderne Ausstellung erzählt die Geschichte durch private Biografen, stellt den Alltag im Lager dar und die Arbeit, informiert über die Rolle der Zwangsarbeit in der Reichswirtschaft.

Ich habe herausgefunden, dass es einen Unterschied zwischen westeuropäischen und osteuropäischen Häftlingen gab. Die Zwangsarbeiter im Nazi- Deutschland wurden nach dem Prinzip der rassistischen Hierarchie eingeteilt. An der Spitze standen die sogenannten Arier und andere Häftlinge aus Nord-und Westeuropa. Auf der unteren Stufe der Hierarchie standen die Häftlinge aus Polen, der Sowjetunion, die sogenannten OST-Arbeiter, Sinti und Roma und Juden. Sinaida Baschlai war Ostarbeiterin aus der Ukraine, sie musste als Haushälterin arbeiten. Sie hat erzählt: 'Wir durften weder ins Kino noch öffentliche Plätze besuchen. Auf unserer Kleidung musste OST stehen, das war, wie soll ich sagen, damit allen klar war, mit wem sie es zu tun hatten. Na, aber wir bedeckten das immer, damit es nicht zu sehen war'. Was ich verblüffend finde, wie Menschen die Kraft gefunden haben, sich zu freuen, Freundschaften zu pflegen oder sich gegen das NS-System aufzulehnen.

Der Abschluss der Jugendbegegnung war am 27. Januar. Es fand eine Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestags statt. Zunächst haben wir an der Eröffnung der Ausstellung zur Zwangsarbeit teilgenommen (was ich total symbolisch finde. Es ist eine spezielle thematische Ausstellung im Herzen der deutschen Demokratie), danach hatten wir im Bundestag ein Gespräch mit Prof. Dr. Norbert Lammert und Prof. Dr. Ruth Klüger. Das Lied ' Die Moorsoldaten' (so nannten die politischen, mehrheitlich kommunistischen Häftlinge des Konzentrationslagers Börgermoor im Emsland ihre Lagerhymne ) hatte Bedeutung für diesen Tag. Besonders aktuell und persönlich fand ich die Rede von Ruth Klüger, für die feststeht, dass die Vergangenheit die wichtigste Rolle spielt bei gegenwärtigen politischen Beschlüssen. Frau Klüger ist eine amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Auschwitzüberlebende. Sie unterstreicht die Notwendigkeit, sich an alle die schrecklichen Qualen zu erinnern. Trotz der heutigen schwierigen Situation müssen wir das schaffen.

Außer neuen Kenntnissen und wissenschaftlichen Informationen habe ich während des Projekts neue Bekanntschaften gefunden. Ich bin überrascht, dass verschiedene Jugendliche sich nach nur ein paar gemeinsamen Tagen so eng angefreundet haben. Ich glaube, sie sind die neue Generation, sie sind frei von Voreingenommenheit, Stereotypen und offen für neue Erfahrungen. Sie sind bereit, alle Kräfte einzusetzen, um die Welt frei und friedlich zu gestalten.

Text: Viktoryia Kutdusova