27.01.2017 Zeitzeugengespräch

Bericht vom Zeitzeuginnengespräch mit Marianne Wilke in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Am 26. Januar 2017 besuchte Marianne Wilke das Studienzentrum der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und berichtete vor ca. 100 Zuhörer*innen – Schulklassen und Einzelpersonen – von ihren Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus.

Marianne Wilke wurde 1929 als Tochter eines jüdischen Vaters und einer nichtjüdischen Mutter geboren. Dem Rassenantisemitismus der Nationalsozialist*innen zufolge galt sie deshalb als „Halbjüdin“. Das Gespräch mit der Leiterin der Gedenkstättenpädagogik, Ulrike Jensen, begann sie mit einer Erzählung aus ihrer Kindheit. Mit sieben Jahren hatte sie mit ihrem Bruder auf der Straße gespielt und die Geschwister wurden angesprochen „Ihr seid doch Juden“. Zu diesem Zeitpunkt habe sie noch gar nicht gewusst, wovon die Leute sprachen. Ihr Vater sei nicht gläubig gewesen, deshalb habe sie sich auch erst weit nach 1945 für das Judentum interessiert, bestärkte sie später nochmals nach der Nachfrage einer Schülerin. Unter den Erwachsenen ihrer Familie seien damals zwei Fragen beherrschend gewesen:

Kann es noch schlimmer kommen? Müssen wir aus Deutschland weg?

Der Großvater war sich damals sicher, es könne ihnen nichts passieren. Er war stolz auf sein Eisernes Kreuz Erster Klasse, das er im ersten Weltkrieg verliehen bekommen hatte und fühlte sich primär als Deutscher. Nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurden jedoch zwei Brüder des Vaters nach Sachsenhausen deportiert. Als sie zurückkehrten, waren sie davon überzeugt, dass Auswandern für sie sicherer sei. Dies war dann allerdings nicht mehr einfach möglich, man benötigte eine Einladung aus dem Ausland. Nur einer der Brüder des Vaters und seine Familie erhielten Asyl in England.

Marianne Wilke berichtete weiter aus ihrer Schulzeit und betonte, wie präsent die NS-Ideologie in allen Fächern gewesen sei. Sie beschrieb Beispiele – wie im Deutschunterricht ein Gedicht über „braune Mädel“ mit „braunem Herzen“ und „braunem Ehrenkleid“ auswendig zu rezitieren gewesen sei, ihr Bruder im Sportunterricht Handgranatenweitwurf hatte üben müssen und im Biologie-Unterricht statt der Blutgruppen die angebliche Gegensätzlichkeit von „deutschem“ und „jüdischem“ Blut gelehrt worden sei. Letzteres habe sie am allermeisten verunsichert, schilderte sie. Aus einem mitgebrachten Buch mit Quellen und Dokumenten las sie eine Verordnung des Reichserziehungsministers Bernhard Rust vor, die besagte, dass es arischen Lehrer*innen nicht zuzumuten sei, jüdische Schüler*innen zu unterrichten. Zusammenhängend damit erzählte sie von ihrer Klassenlehrerin, die ihr als solidarisch und antifaschistisch in Erinnerung geblieben ist. Beispielsweise seien zu Beginn des Schuljahrs Fragebögen an die Lehrer*innen geschickt worden, um zu erfassen, wie viele Kinder in den Klassen seien, die laut NS-Ideologie zu den Kategorien jüdisch, halbjüdisch oder vierteljüdisch gehörten. Ihre Lehrerin habe jedoch lediglich einen Strich gemacht, also angegeben, es gebe keine und habe Marianne somit gedeckt. Sie berichtete weiter von den verschiedenen Verordnungen und Einschränkungen, die Juden*Jüdinnen nach und nach erlebten und wie sie als Kind davon betroffen war. So durfte sie nicht an den besonderen Schulveranstaltungen wie Kino- oder Schwimmbadbesuchen teilnehmen. Für sie persönlich war es sehr wichtig, dass die Klassenlehrerin ihr vermittelte, das nicht gut zu finden.

Als weiteres einschneidendes Erlebnis schilderte sie eine Situation, bei der sie in der Küche ihrer Wohnung saß und zwei schwarz gekleidete Männer ihre Mutter anschrien: „Lassen Sie sich endlich scheiden, sonst wir es Ihnen und Ihren Kindern schlecht ergehen!“. Marianne sei sehr erschrocken und habe sich zu ihrem Bruder geflüchtet. Ihre Mutter ließ sich aber nicht scheiden. „Ich denke, das hat meinem Vater das Leben gerettet“, urteilt Marianne Wilke heute. Dem Status der „privilegierten Mischehe“ habe er schließlich zu verdanken gehabt, dass er nicht viel früher schon ins Konzentrationslager deportiert worden sei.

Mariannes Großeltern väterlicherseits überlebten den Nationalsozialismus nicht. Sie wurden 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet. Marianne Wilke beschrieb, dass sie Briefe erhielten, dass sie sich an der Moorweide einzufinden hatten. „Danach haben wir nie wieder von ihnen gehört“, sagte Marianne. Die Großeltern waren damals 63 und 65 Jahre alt, ein Alter, in dem Juden*Jüdinnen in den Lagern von den Nationalsozialist*innen als „arbeitsunfähig“ eingestuft wurden.

Im Anschluss an Marianne Wilkes Bericht konnten die Anwesenden Fragen stellen. Diese drehten sich darum, ob sie mit ihrem Vater über dessen Erfahrungen gesprochen hat, wie es für sie selbst ist, darüber öffentlich zu reden und wie ihre Position zur (verspäteten) juristischen Aufarbeitung ist. Eine Zuhörerin erkundigte sich nach Möglichkeiten des Widerstands durch die deutsche Bevölkerung. Welche Form von Repressalien habe es denn gegeben?

Marianne Wilke betonte daraufhin vor allem ihre Dankbarkeit und Bewunderung gegenüber denen, die trotz großer Schwierigkeiten Widerstand geleistet hätten. Dabei seien es teils auch die kleinen Gesten von Solidarität gewesen, die zählten – zum Beispiel Essenspakete, die Menschen vor ihre Tür legten oder vier Freundinnen, die trotz der Warnungen ihrer Mutter („Wir wohnen im dritten Stock, der Hauswart merkt sich, wer zu uns kommt!“) der Familie die Freundschaft hielten und regelmäßig zu Besuch kamen. Solidarität wünscht sich Marianne Wilke auch für das Zusammenleben in der heutigen Zeit. Sie selbst engagiert sich vielseitig  gegen das Wiedererstarken rechter Bewegungen und Ideologie. De Moderatorin Ulrike Jensen verwies darauf, dass sie dafür 2015 das Bundesverdienstkreuz erhalten habe. Marianne Wilke winkte bescheiden ab und entgegnete, viel wichtiger sei für sie, dass der Landesverband in Schleswig-Holstein des Verbands Deutscher Sinti und Roma sie mit dem sogenannten „Meilenstein“ geehrt habe, da sie sich dafür eingesetzt hatte, dass Sinti und Roma als Minderheit anerkannt würden und dementsprechend staatliche Förderungen geltend machen konnten.

Das Gespräch beendete Marianne Wilke folgerichtig mit einem Appell an die Schüler*innen: „Sagt nicht Ja, wenn ihr denkt, es müsste Nein heißen.“ Abschließend zitiert sie den Refrain eines Songs von der Funpunk-Band „Die Ärzte“: „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist wie sie ist. Es wär nur deine Schuld, wenn sie so bleibt“.