26.02.2018 Zeitzeugengespräch

„Die unbekannte Familie“ – Ein Bericht zum Zeitzeugengespräch mit Rozette Kats aus Amsterdam

Was passiert mit einem, wenn man erfährt, dass man nicht die Person ist, die man bis dahin glaubte zu sein, dass die geliebten Eltern gar nicht die „echten“ Eltern sind, weil die im Holocaust getötet wurden?

Vor ca. 60 Zuhörerinnen und Zuhörern – Schulklassen und Einzelbesuchenden – berichtete Rozette Kats am 20. Februar 2018 im Studienzentrum der KZ-Gedenkstätte Neuengamme von diesem einschneidenden Erlebnis und ihrem Umgang damit.

1942 geboren, wuchs Rita in einem behüteten Elternhaus auf. Ihre Kindheit war, den Kriegs- und Nachkriegsumständen entsprechend, ausgefüllt und harmonisch. Voller Vorfreude auf ihren 6. Geburtstag und den Beginn der Grundschule verbrachte sie den Vorabend mit ihren Eltern. Diese entschieden sich an diesem Abend, Rita ein lang gehütetes Geheimnis zu verraten, das ihr ganzes Leben verändern sollte:

„Papi“ und „Mami“ waren nicht ihre leiblichen Eltern – ihre eigentlichen, jüdischen Eltern waren 1943 über das Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort umgebracht worden. Rita hieß eigentlich Rozette Kats und war von ihren leiblichen Eltern weggegeben worden, um sie vor der Deportation zu schützen.

Schlagartig änderte sich Ritas gesamtes Leben. Wer war sie? Rita oder Rozette? Sie verspürte eine sie bis ins Erwachsenenalter verfolgende Angst „falsch“ zu sein. „Ich wusste nicht, wer ich war.“

Eindrücklich schilderte sie den Zuhörerinnen und Zuhörern diesen inneren Konflikt. Sie entwickelte sich zu dem perfekten Kind. Vor lauter Angst, etwas falsch zu machen – und damit wohlmöglich nicht mehr bei ihren Pflegeeltern bleiben zu können – versuchte sie jeglichen Konflikten und Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Dass sie unter einem tief sitzenden Trauma litt, wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. In einen fiktiven „schwarzen Eimer“ steckte sie alle Gedanken, Konflikte und Erlebnisse, die ihr Schwierigkeiten machten.

Aus dem Nichts tauchte ein Onkel – der älteste Bruder ihrer leiblichen Mutter – auf. Er hatte in einer „privilegierten Mischehe“ überlebt. Stark traumatisiert sah er es als seine Pflicht an, Rozette an sich zu nehmen, doch ein Gericht entschied, dass Rozette bei ihren Pflegeeltern bleiben konnte, ihr Onkel wurde jedoch ihr Vormund. Alle wichtigen Entscheidungen benötigten seine Zustimmung, gleichzeitig musste sie mindestens zwei Wochen im Jahr bei ihm verbringen.

Sie erzählte, dass sie sich erst mit 12 Jahren traute, ihren Onkel nach ihren „echten“ Eltern zu fragen. War sie ihrer Mutter in ihrer Art und auch äußerlich ähnlich? Sie erhielt darauf nie eine Antwort und realisierte nicht, wie schwer es ihrem Onkel fiel darüber zu reden. „Ich dachte, ich darf nicht fragen.“

Von ihrer Pflegemutter erhielt Rozette an ihrem 18. Geburtstag eine Dose mit zwei Ringen und einer alten, kaputten Uhr. Sie erzählte ihr, dass es sich um Schmuck ihrer Eltern handelte, welche sie von einem Mann aus dem Lager Westerbork erhalten hatte – es stellte sich später heraus, dass es sich um einen weiteren Bruder ihrer Mutter handelte, welcher den Holocaust nicht überlebte. Rozettes Angst und Orientierungslosigkeit holten sie erneut ein. Sie wollte mit dem Schmuck von ihr fremden Menschen nichts zu tun haben. Der eigentliche Wert war ihr zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. Wieder packte sie diese Gedanken in ihren „schwarzen Eimer“ und versuchte diese Unsicherheiten für die Zukunft loszuwerden.

Erst kurz vor seinem Tod (1984) fragte Rozette ihren Onkel erneut nach ihren leiblichen Eltern – sie war zu diesem Zeitpunkt 42. Ohne weitere Worte ging er zu einem ihr bis dahin kaum aufgefallenen Schrank, holten aus diesem eine ihr unbekannte Ledertasche und zog ein Fotoalbum heraus. Hieraus gab er ihr ein Bild: das Hochzeitsfoto ihrer Eltern. Den Rest schloss er sofort wieder in den Schrank ein.

Diese Tasche ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Rückwirkend beschrieb Rozette sich als förmlich besessen danach zu wissen, was sich noch in der Tasche befand. Einige Jahre später fragte sie ihre Tante nach der Tasche. Als diese ihr erzählte, dass sie die alte Tasche nicht mehr hatte, brach sie zusammen. Sie begab sich in Therapie.

Erst durch eine Konferenz Anfang der 1990er Jahre, die sich mit den Erlebnissen der Kinder verfolgter Juden im Nationalsozialismus beschäftigte, realisierte sie, dass sie mit ihren Ängsten, Blockaden und Unsicherheiten nicht allein war. „Seitdem weiß ich, was es heißt, Jüdin zu sein.“ Die Konferenz entfachte ihr Interesse, sich mit ihrer Geschichte und dem Judentum auseinanderzusetzen. Zudem bereiste sie jeden Ort der Judenverfolgung und –vernichtung. Als ihr Cousin sie bei einer Familienfeier fragte, wie sie emotional mit diesen Orten umginge und meinte, dass er großen Respekt vor ihrem Mut hat, sich diesen Erlebnissen zu stellen, während er sich nicht einmal traut, eine alte Ledertasche seiner Eltern zu öffnen, horchte sie auf. Die von ihr gesuchte Tasche war gefunden. Den Zuhörer*innen erzählte sie, dass sie daraufhin mit ihrer gesamten Familie ein Fest veranstaltete und sie die Tasche öffneten und sich gemeinsam ihrer Geschichte stellten. „Es war ein trauriger und schöner Abend zugleich.“

Auf die Frage, wie ihre Pflegeeltern sie in ihrem Prozess der Selbstfindung unterstützten , erklärte Rozette, dass erst 2001, kurz vor dem Tod ihrer Pflegemutter, diese sie erstmals Rozette und nicht Rita nannte. Für sie war das ihr persönlicher Tag der Heilung. Sie hatte nun keine zwei Persönlichkeiten mehr.

Nach dem Tod ihrer Pflegeeltern setzte sie sich dafür ein, dass diese in Yad Vashem als Helfer geehrt wurden. Sie weiß nun, dass sie ihr vor ihrem 6. Geburtstag ihre Geschichte erzählten, weil sie sie liebten. So, wie auch ihre leiblichen Eltern sie liebten und der Schritt, sie an Pflegeeltern abzugeben, ihr das Leben rettete.

Lisa Herbst, Volontärin